Medizinstipendien

Foto: Unsplash / National Cancer Institute

Rede zum Thema Medizinstipendien in der 6. Kreistagssitzung (Fortsetzungssitzung) am 17.01.2022, gehalten von Dr. Jörg-Daniel Sattler, Bündnis 90/ Die Grünen, Mitglied des Kreistages.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
liebe Kolleg*innen,

die Vorredner haben es schon dargestellt: Ein großer Teil der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte im Lahn-Dill-Kreis wird in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Natürlich stellt dies ein Problem für die ältere (und weiter alternde) Bevölkerung dar, aber nicht nur: Die Probleme beginnen schon am anderen Ende der Lebensspanne, wenn Sie versuchen, einen Kinderarzt im Lahn-Dill-Kreis zu finden. Chronisch Kranke und Behinderte sind genauso betroffen. Und nicht zuletzt ist die Gesundheitsversorgung auch ein Teil der Infrastruktur und damit ein eigener Standortfaktor. Auch bei der Frage, wo ich mich als Arzt oder Ärztin niederlasse, spielt diese Infrastruktur eine Rolle und ist damit in gewisser Weise ein sich selbst verstärkender Faktor.

Eine Nebenbemerkung: Ähnliche Probleme gibt es auch in den Krankenhäusern – aber ich möchte mich hier im mutmaßlichen Sinne des Antrags auf den ambulanten Sektor konzentrieren.

Kurzum: Es ist an der Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, um die ärztliche Versorgung im Kreis zu sichern. Stipendien können ein Weg sein, um Aufmerksamkeit auf das Problem zu lenken und möglicherweise als Aushängeschild und Werbung für den Lahn-Dill-Kreis zu fungieren. Aber darüber hinaus ist zu befürchten, dass der Antrag sein Ziel, mehr Ärzt*innen im ambulanten Sektor zu halten, nicht erreichen wird.

Zum einen sehe ich Umsetzungsprobleme: Welche Hebel hat der Kreis, falls Ärzt*innen nach der Approbation doch nicht im Lahn-Dill-Kreis arbeiten möchten? Was ist mit Studienabbrechern? Wie kann sichergestellt werden, dass nicht ein anderer, finanzstärkerer Arbeitgeber einfach die Rückzahlung des Stipendiums übernimmt und der Kreis so dasteht wir vorher?

Aber, wie gesagt: Hier handelt es sich um Umsetzungsprobleme, die möglicherweise gelöst werden können. Auch der Blick in Kommunen, die hier schon ähnliches umgesetzt haben, kann sicherlich hilfreich sein.

Darüber hinaus möchte ich in Verbindung mit dem vorliegenden Antrag drei Hauptpunkte ansprechen.

Punkt 1: Der Antrag greift zu spät. Das Medizinstudium hat eine Mindestdauer (wohlgemerkt: nicht Regelstudiendauer) von 12 Semestern, die Facharztausbildung dauert mindestens fünf Jahre, eher länger. Der kürzest mögliche Zeitraum von Studienbeginn bis zur Facharztzulassung sind dementsprechend elf Jahre. Das ist ganz schön lang.

Punkt 2: Mir ist die Zielgruppe nicht ganz klar. Nur wenige Studierende wissen bei Studienbeginn schon so genau, dass sie sich niederlassen wollen, dass sie diese Verpflichtung eingehen würden. Aus meiner eigenen Historie: Ich bin Facharzt für Anästhesie – aber dieses Fach stand für mich bei Studienbeginn noch in weiter Ferne. Eine Verpflichtung auf eine Fachrichtung oder einen Ort wäre für mich sicher nicht infrage gekommen.

Andersherum: Diejenigen, die schon genau wissen, dass sie sich niederlassen möchten, und vielleicht sogar schon eine Praxis im Auge haben (auch das gibt es ja), lassen sich durch das Fehlen eines Stipendiums wahrscheinlich auch nicht vom Studium abhalten. Des Weiteren sind Studium und Facharztausbildung meist auf die Tätigkeit im Krankenhaus „getrimmt“, der Kontakt zur Allgemeinmedizin findet recht spät statt. Die Tätigkeit im ambulanten Sektor steht während Studium und Facharztausbildung einfach durchaus nicht im Vordergrund.

Punkt 3: Die eigentlichen Hindernisse bei der Nachwuchsgewinnung und im Praxisalltag sind nicht in der Studienfinanzierung zu suchen, sondern z. B. bei teils überbordenden Dokumentationspflichten, bei hohem Organisationsaufwand, und teils auch bei stockenden Abläufen bei der Kooperation mit den örtlichen Krankenhäusern. Auch bei niedergelassenen Ärzt*innen haben sich weiterhin die Anforderungen an die Arbeitszeit geändert (Platt gesagt: Um eine ausscheidende Ärztin zu ersetzen, müssen anderthalb neue gefunden werden.), die Anforderungen an die Vereinbarung von Beruf und Familie sowie die Kinderbetreuung sind gestiegen. Auch die Bereitschaft, das finanzielle Risiko der Niederlassung einzugehen, sinkt.

Die Frage ist: Was tun? Hier sollten mehrere Ansätze verfolgt werden.

Zum einen geht es um allgemeine Anreize, im Lahn-Dill-Kreis zu wohnen und zu arbeiten – KiTas und Schulen, ÖPNV, Infrastruktur. Aber das gilt ja für alle Berufsgruppen gleichermaßen, und das sind Themen, die ja in der einen oder anderen Form ohnehin in fast jeder unserer Sitzungen zur Sprache kommen.

Darüber hinaus sehe ich zwei „Problemfelder“, bei denen Ärzt*innen für den ambulanten Sektor „verloren“ gehen.

Zum einen ist dies die Arbeit im ambulanten Sektor an sich (wie schon erwähnt: Die ambulante Tätigkeit steht in Studium und Facharztausbildung eher im Hintergrund). Wir haben mit den Lahn-Dill-Kliniken akademische Lehrkrankenhäuser an der Hand. Hier könnte zum Beispiel im Rahmen von Praktika und des Praktischen Jahres im Studium das Bewusstsein für ambulante Tätigkeiten gestärkt werden. Auch während der Facharztausbildung könnte z. B. durch die Vermittlung von Rotationsplätzen oder Weiterbildungsstellen Hindernisse abgebaut werden.

Das andere Problemfeld, die andere Frage ist: Wie kann man Arbeit und Niederlassung attraktiver machen?

Klar ist: Die Rahmenbedingungen werden durch Gesundheitspolitik und Kassenärztlichen Vereinigungen vorgegeben – diese werden wir hier nicht ändern. Aber: Innerhalb dieses Rahmens ist doch einiges an Unterstützung denkbar und möglich.

Mögliche Ansätze könnten in der verstärkten Förderung von medizinischen Versorgungszentren (wie z. B. in Breitscheid) mit mehr angestellten Ärzt*innen bestehen, auch in Form einer veränderten Zusammenarbeit mit dem Landarztnetz Lahn-Dill.

Auch eine Ausdehnung der Aufgaben des Landarztnetzes kann angedacht werden, ebenso die Förderung von „Dokumentationsassistent*innen“ oder medizinischen Fachangestellten für mehrere Praxen oder Praxisverbünde zusammen, die einen Teil der wiederkehrenden Verwaltungsaufgaben abnehmen können

Sicherlich sollte man auch hier wieder einen Blick auf die Schnittstelle zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor werfen, also die Abstimmung der Arbeitsabläufe bei Krankenhauseinweisungen und auch nach dem Aufenthalt.

Alle diese genannten Möglichkeiten sollten im Sozialausschuss vorgestellt und diskutiert werden, gerne auch direkt mit Vertreter*innen z. B. des Landarztnetzes und der Lahn-Dill-Kliniken.

Zusammenfassend:

  1. Stipendien können unterstützen, sind aber mutmaßlich alleine nicht ausreichend.
  2. Wir sollten prüfen, ob eine stärkere Integration des niedergelassenen Sektors in Studium und FA-Ausbildung möglich ist.
  3. Wir sollten prüfen, an welchen Stellen der Arbeitsalltag und die Rahmenbedingungen sinnvoll unterstützt werden können.

Daher unser Vorschlag, den vorliegenden Antrag zu erweitern:

„Der Kreisausschuss wird beauftragt, zu prüfen, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um ärztliches Personal für den Lahn-Dill-Kreis zu gewinnen und zu halten, und diese Maßnahmen im Sozialausschuss vorzustellen. Dies kann die Vergabe von Medizinstipendien an Studierende der Humanmedizin beinhalten, bei denen Studierende nach Abschluss des Studiums zu einer Tätigkeit im Lahn-Dill Kreis verpflichtet werden.“

Wir bitten um Zustimmung.

Vielen Dank.

Hinweis: Es handelt sich bei dieser Rede um die Niederschrift einer im Kreistag gehaltenen Rede. Es gilt das gesprochene Wort.

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