Der erste digitale Parteitag der Grünen

Der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Abschluss des neuen Grundsatzprogramms • © Dominik Butzmann

 

Vergangenes Wochenende – vom 20.11 bis zum 21.11.2020 – hat Bündnis 90/DIE GRÜNEN als ertse Bundespartei einen digitalen Parteitag veranstaltet. Der Parteitag sollte ursprünglich in Karlsruhe stattfinden. In Zeiten von Corona und steigenden Infektionszahlen hat sich die Bundespartei aber dazu entschlossen den Parteitag komplett digital abzuhalten. Die Bundespartei hat damit eine Vorreiter-Stellung eingenommen und bewiesen, dass digitale Großveranstaltungen erfolgreich ablaufen können.

Auf dem mehrtätigen digitalen Parteitag wurde ein neues Grundsatzprogramm beschlossen.Die Delegierten stimmten für die Präambel und die Grundwerte des neues Grundsatzprogramms. Die Bundesvorstizende Annalena Baerbock entwarf in ihrer politschen Rede am Freitag (20.11) eine optimische Sicht in die Zukunf:

 

„Machen wir 2021 zum Beginn einer neuen Epoche. Machen wir es besser.“

Foto: Bundesvorsitzende Annalena Baerbock auf dem digitalen Parteitag • © Dominik Butzmann

Die Rede von Annalena Baerbock können Sie nachschauen:

 

Nachdem am Freitag des Grundsatzprogramm beschlossen wurde, ging es am Samstag weiter mit den Grundsatzdebatten zu den Clastern: Nachhalitgkeit, Zukunft und Freie Welt. Der Bundesvorsitzende Robert Habeck eröffnete den zweiten Tag mit seiner politschen Rede:

 

„Wir können entscheiden. Wir können anders.“

Foto: Bundesvorsitzender Robert Habeck hält seine politische Rede auf der digitalen BDK • © Dominik Butzmann

Die komplette Rede von Robert Habeck können Sie hier nachfolgend nachschauen oder weiter unten nachlesen:

Rede vom digitalen Parteitag der Grünen
Hallo und Guten Tag, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde. Willkommen und einen guten zweiten Parteitagstag und Samstag, mit uns, hier in diesem digitalen Raum, in dieser seltsamen Zeit.

Als wir uns das letzte Mal sahen, live, als Menschen, die buchstäblich einen Raum miteinander teilten, auf dem Parteitag in Bielefeld, schieden wir mit dem Wissen, dass das Jahr 2020 viel schwieriger werden würde als 2019. Wir hatten bei den Europawahlen 20,5 Prozent geholt, waren an drei neuen Landesregierungen in Ostdeutschland beteiligt, wir hatten kräftigen Wind im Rücken, aber eine Ahnung, dass er bald von vorne wehen und die Auseinandersetzungen schärfer werden würden. Und ich rief Euch zum Abschied zu, dass 2020 das Jahr der eigentlichen Bewährungsprobe wird.

Ja. 2020 ist eine Bewährungsprobe. Und was für eine! Eine, die unsere gesamte Gesellschaft fordert. Die tief in unseren Alltag eingreift, die unser Selbstverständnis und unsere Selbstverständlichkeit trifft. Eine, bei der unsere liberale Demokratie ihre Kraft erst recht beweisen muss – gegenüber einem fiesen Virus, das nichts kennt außer sich selbst – und gegenüber autoritären Regimen, die nichts kennen außer ihrer Macht.

Covid-19 traf uns scheinbar überraschend. In Wahrheit jedoch war es eine Pandemie mit Ansage – weil Studien und Warnungen vor zoonotischen Krankheiten politisch geflissentlich nicht berücksichtigt wurden. Und nun steht die Weltgemeinschaft 2020 da wie Karl der Nackte.

Das darf uns nicht nochmal passieren.

'Wenn wir die Klimakrise eskalieren lassen, wie die Corona-Krise, dann haben wir als politische Generation versagt.“
Wenn wir die Klimakrise – die in Wahrheit eine Menschheitskrise ist, denn das Klima ist das Klima, es kommt gut ohne Menschen aus, wir aber brauchen eine bewohnbare, halbwegs ökologisch intakte Erde – wenn wir also die Klimakrise eskalieren lassen, wie die Corona-Krise, dann haben wir als politische Generation versagt.

Zeiten des Bewährens sind Zeiten des Grundsätzlichen: Schwächen treten zu Tage und Stärken genauso. Und wir müssen entscheiden, ob wir die Schwächen groß werden lassen oder die Stärken mächtig. Ob wir weitermachen wie bisher oder von hier an anders.

Ungewollt, aber offensichtlich ist die Pandemie eine Wasserscheide, die die Dekadenwende 20/21 zum Moment einer Grundsatzentscheidung macht. Und das ist eine gute Nachricht, denn: wir können entscheiden. Jede einzelne von uns und wir zusammen.

Was ist die Geschichte hinter der Geschichte unserer Zeit? Wohlstand ist gewachsen – nicht für alle und nicht gleich, aber doch gewachsen. Rechte wurden erkämpft – noch immer gibt es gläserne Decken und Diskriminierung – aber mehr Menschen machen Bildungsabschlüsse, haben Zugang zur Gesundheitsversorgung. In den Städten Europas hat das öffentliche Leben, hat Kultur in den letzten Jahren geblüht.

Was aber, wenn nicht politische Fehler, sondern gerade politische Erfolge zu gesellschaftlichen Misserfolgen werden? Was, wenn die Produktion von Wohlstand die Lebensgrundlagen zerstört, wenn der Bildungsaufstieg der einen von den anderen als Abwertung wahrgenommen wird? Was, wenn Individualisierung zur Vereinsamung wird?

„Die Pandemie und ihre Folgen verstärken eine Entwicklung, die schon lange zuvor eingesetzt hat.“
Die Pandemie und ihre Folgen verstärken eine Entwicklung, die schon lange zuvor eingesetzt hat: Wir müssen nicht mehr auf den Markt oder in den Supermarkt gehen oder gar in ein Restaurant oder eine Kneipe, wir können uns Essen nach Hause bestellen. Wir müssen nicht mehr ins Kino oder Theater gehen, wir können im Wohnzimmer streamen. Wir müssen nicht mehr in die Innenstädte, wir können online shoppen. Wir müssen nicht mehr zu politischen Veranstaltungen, wir haben ja unsere Facebook oder twitter-Blasen, in denen sich Gleichgesinnte im Rechthaben bestätigen.

Die Pandemie verändert eben nicht alles, sie wirkt wie ein Katalysator, sie verstärkt Fliehkräfte, vergrößert soziale Kluften, sie steigert die Gereiztheit. Der öffentliche Raum schrumpft, weil Schwimmhallen und Sportplätze, Theater und Museen, Kinos und Kneipen, unsere Orte des Austausches als Orte der Gefährdung gelten.

Die Einsamen werden einsamer. Menschen sterben allein. Existenzen, mit Energie und Liebe aufgebaut, werden vernichtet und damit Leistungen und Hoffnungen eines Lebens.

Der gemeinsame Grund unserer Gesellschaft ist ausgetrocknet, er hat Risse bekommen, kleine Schollen sind entstanden. Und auf diesen kleinen Schollen leben die Menschen in Gruppen und Grüppchen. Wenn es aber stark regnet, dann kann ein solcher Boden all das Wasser nicht mehr aufnehmen. Dann bildet sich ein Graben, der das Land in zwei Hälften teilt. Dann wird die Klimakrise zu einem Generationenkonflikt stilisiert, dann leben aus Sicht der einen in den Städten abgehobene Besserwisser, die keine Ahnung haben, wie Kühe- und Schweinegülle riecht, aber von Tierhaltung faseln, die noch nie eine Windkraftanlage aus der Nähe gesehen haben, aber den Ausbau der Erneuerbaren forcieren wollen – und aus Sicht der anderen leben auf dem Land Einfaltspinsel, die vom gestern schwärmen, die nicht zur Kenntnis nehmen, dass ein offene Gesellschaft eine freiere ist. Frauen gegen Männer, Männer gegen Frauen, Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft, Bildungsgewinner und die, die kämpfen müssen…. Dann prallen Vorwürfe von einer Grabenseite zur anderen, und der gemeinsame Grund unserer liberalen Demokratie wird weggeschwämmt.

Wohin das führen kann, sehen wir in den USA, wo trotz seiner Politik knapp die Hälfte der Wählerinnen und Wähler Trump gewählt hat – mit mehr Stimmen, als Obama jemals gewonnen hatte. Und vielleicht gar nicht „trotz“ sondern „wegen“ seiner Politik. Und auch in Deutschland macht sich die politische Rechte die Corona-Pandemie zu nutze.

In einer überhitzen Globalisierung rennen wir dem Billigsten und Effizientesten hinterher. Was sich nicht rechnet, zählt nicht. Wir hecheln von einer Krise in die nächste, getrieben, immer dabei, Scherben wegzukehren, und schnell weiter. Rastlosigkeit und Getriebenheit wird durch eine Politik verstärkt, die im Dauer-Reparaturmodus ist, immer aufwändiger am Status Quo rumschraubt, notdürftig Ersatzteile zusammenbastelt.

Ja, die Zeit des Bewährens ist mit Augenblicken der Dunkelheit durchsetzt, mit Momenten der Verzweiflung, des Frusts, der Sorge.

Aber sie ist kein Schicksal – wir können entscheiden. Wir können anders.

„Wir können entscheiden. Wir können anders.“
Und wenn wir genau hinsehen, sehen wir das. Da sind etliche Funken der Hoffnung: Es gibt Aussicht auf Impfstoffe, weil Technik und Forschung und Wissenschaft leistungsfähig sind wie nie zuvor. Joe Biden löst Donald Trump ab, weil es eine gesellschaftliche Bewegung gegeben hat, die ihn getragen hat, weil er und Kamala Harris als TEAM agiert haben. Junge Menschen kaufen für Alte ein, und jetzt, wo der gemeinsame Raum wegfällt, wo Künstler*innen nur den digitalen Raum haben, spüren wir, wie groß, wie kostbar Solidarität, Austausch, Gemeinsamkeit sind und wie sehr sie uns ausmachen.

Wir können ein neues Wir sein. Ein Wir, dass streitet – aber auf der Basis einer gemeinsamen Wirklichkeit. Eine Gesellschaft der Vielen – aber eben: eine Gesellschaft.

Dies ist unsere Aufgabe. Unsere, weil gerade wir als Partei der Vielfalt und Individualität, als Partei der Veränderung aus den letzten Dekaden heraus stark und groß geworden sind. Deshalb müssen wir, vielleicht vor sogar allen anderen, uns den Aufgaben der neuen Zeit stellen, sie gestalten, sie Wirklichkeit werden lassen.

Dieses Versprechen ist UNSER Versprechen: Jetzt, mit dem Grundsatzprogramm, dann für das neue Jahr, die neue Dekade: dass wir eine Politik formen, die neu aufbaut. Die die Systeme unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens neu eicht.

Denn noch wird Politik betrieben aus einem Denken, dass in Gegensätzen verharrt und hilflos davor erstarrt. Dabei sind Widersprüche Pole, zwischen denen neue Energie entsteht, Antriebskräfte, Neues zu schaffen. Noch heißt es, Klimaschutz gefährdet wirtschaftlichen Erfolg. Dabei wird es nur mit und durch Klimaschutz in Zukunft noch wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand geben.

Noch wird unser Energiesystem in Sektoren aufgeteilt – Strom, Verkehr, Industrie, Wärme – nötig ist aber, dass wir die Grenzen zwischen Sektoren überwinden und so effizienter und versorgungssicherer werden.

Noch wird eine Politik betrieben, die Artenschutz und Tierwohl in erster Linie als Verlust für die Landwirte betrachtet. Wir werden sie zu einem Gewinn machen – zum Nutzen der Umwelt und der Bäuerinnen und Bauern.

Noch verharrt Deutschland in einer Finanzpolitik, in der man mehr Angst vor Schulden in den Büchern hat als vor den Schulden in der Wirklichkeit. Aber wenn Schulen, Schwimmbäder, Spielplätze, Sporthallen marode sind, wenn Busse und Bahnen nicht fahren, dann verschulden wir uns doch erst recht.

„Wir müssen in Deutschland mehr investieren, mehr in Deutschland investieren.“
Wir müssen in Deutschland mehr investieren, mehr in Deutschland investieren. In die Schulen, Kitas und die Bildung, in Innovation und Klimaschutz. In die öffentlichen Räume, denn das sind die Orte, an denen wir zusammen kommen, raus aus den abgekapselten Gruppen, rein in eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit, wo Menschen unterschiedlichen Alters, Herkunft, Einkommens, Bildungsabschlusses sich begegnen können, miteinander reden, warten, streiten, lachen, diskutieren. Räume und Netze sind die Bedingung dafür, dass eine Gesellschaft eine Gesellschaft bleibt.

Die deutschen Schulden sind durch die Corona-Kredite gestiegen. Reserven im Haushalt wurden oder werden absehbar aufgebraucht. Die Steuereinnahmen werden noch lange Zeit unter den Prognosen von vor der Krise liegen, die Kosten für die Sozialsysteme werden hingegen steigen. Die Finanzplanungen von Bund und Ländern zeigen trotz erheblicher Kreditaufnahme – dass die Ausgaben in den kommenden Jahren nicht gedeckt sind. Allein für 2022 bis 2024 fehlen noch 60 Milliarden im Bundeshaushalt. Eine derartige Summe einzusparen, ist realistisch nur möglich, wenn man wichtige Zukunftsinvestitionen unterlässt. Das wäre gleich doppelt fahrlässig: Erstens ist der Bedarf an Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung und öffentliche Räumen und Netze ohnehin enorm. Zweitens dürfen wir die Erholung nach der Krise nicht abwürgen.

Damit Bund und Länder handlungsfähig bleiben und wir die Zukunftsinvestitionen stemmen können, muss die Einnahmeseite des Staates verbessert werden, wenn nicht die Last der Staatsschulden unseren Kinder und Enkel aufgebürdet werden soll. Durch Betrug gehen dem Staat jährlich hohe zweistellige Milliardenbeträge verloren. Wir werden Steuerflucht und Steuerbetrug bekämpfen. Wir hätten die Warburg-Bank nicht auch noch dafür belohnt, dass sie betrügt.

Noch immer und gegen alle Treueschwürde werden Zins- und Veräußerungsgewinne niedriger besteuert als Arbeit. Noch immer entziehen sich Unternehmen wie amazon und facebook der Steuer, obwohl sie von unserer öffentlichen Infrastruktur profitieren. Wir werden dafür sorgen, dass sie sich an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen – durch eine europäische Digitalsteuer.

Und ja, diejenigen, die sehr hohe Vermögen und Einkommen haben, werden sich etwas stärker als bisher an den Investitionen in unsere Zukunft beteiligen. Noch immer soll die innere Sicherheit erhöht werden, indem Datenmengen über die gesamte Bevölkerung gesammelt werden, während Nazis und islamistische Gefährder Morde begehen. Wir hingegen lassen die Unbescholtenen in Ruhe, aber überwachen diejenigen, von denen wir wissen oder wissen könnten, dass sie Morde und Schwerstverbrechen begehen, streng. Wir nutzen alle rechtstaatlichen Möglichkeiten, um Gefährder, die frei herumlaufen, schnellstmöglich aus dem Verkehr zu ziehen, durch Vollstreckung von Haftbefehlen, durch Bündelung von Verfahren, durch Verurteilung.

„Den Rechtsstaat zu schützen, verlangt, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu schützen“
Den Rechtsstaat zu schützen, verlangt, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu schützen. Das bedeutet auch: Die Ursachen für rechten Extremismus in den Reihen der Polizei müssen untersucht und behoben werden. Das schützt potentielle Opfer und stärkt die Arbeit der übergroßen Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung jeden Tag aus voller Überzeugung verteidigen. Es darf nicht den Hauch eines Zweifels geben, dass diejenigen, die das Gewaltmonopol des Staates ausüben, es für die Staatsraison tun.

Mit unserem neuen Grundsatzprogramm gießen wie ein neues Fundament, um darauf 2021 ein neues Haus zu errichten. Ein Haus, das diese Gesellschaft schützt, ein Haus für eine Gesellschaft, deren Mitglieder einander achten. Deshalb steht “die Würde und Freiheit“ am Anfang und setzt den Ton.

Würde ist: gegenseitige Anerkennung und Respekt, auch wenn wir streiten, auch wenn es im Leben schief geht – und es ist ein politsicher Auftrag für eine neue Sozialpolitik, eine neue Wirtschaftspolitik, eine neue Umweltpolitik.

Und Freiheit, richtig verstanden, bedeutet nicht, dass alles erlaubt ist, sondern über die Regeln und Begrenzungen des Lebens selbst bestimmen zu können. Als Mensch. Als demokratisch verfasste Gesellschaft.

Und das ist sehr konkret und betrifft die politische Auseinandersetzung auch auf und um diesen Parteitag: Wenn wir die Erderhitzung eindämmen wollen, wenn wir sinnlosen Autobahnneubau hinter uns lassen wollen, dann stellen wir uns nicht über das Gesetz, dann schaffen wir die Mehrheiten, Gesetze zu ändern.

„In Zeiten wie diesen, wo Fundamentalisten aller Art die liberale Demokratie und den Rechtstaat angreifen, verteidigen wir ihn und nutzen seine Möglichkeiten für die Veränderung.“
In Zeiten wie diesen, wo Fundamentalisten aller Art die liberale Demokratie und den Rechtstaat angreifen, verteidigen wir ihn und nutzen seine Möglichkeiten für die Veränderung. Kein Minister steht über dem Gesetz – aber Demokratie bedeutet, dass Gesetze geändert werden können. Davon handeln Wahlen. Davon handelt Politik. Das ist ihr Sinn. Dafür machen wir das hier doch alles, dafür treten wir doch an. Und dafür kämpfen wir – für so große Mehrheiten wie irgend möglich.

Ja, das mutet uns etwas zu: harte Arbeit und die Hartnäckigkeit, weiterzumachen, auch wenn sich das Rad nicht sofort ganz dreht. Und es ist ein verdammt großes Rad, das wir drehen wollen, drehen müssen, weil die Zeit so drängt. Aber je mehr wir sind, desto vereinter sind unsere Kräfte.

Und wir dürfen nicht vergessen: Mit unserem großen Anspruch muten wir auch anderen etwas zu.

Neulich hat der Discounter, in dem ich hin und wieder einkaufe, seine Regale umgebaut. Man konnte nicht mehr längs durch den Laden gehen, sondern musste quer laufen. Ich brauchte doppelt so lange, um meine Einkaufsliste abzuarbeiten. Und musste permanent suchen und mich umorientieren. Als ich dann an der Kasse stand, war ich spät dran und schlecht gelaunt. Ich habe nicht gedacht: Super, du hast schon lange kein Labyrinthspiel mehr gespielt, sondern ich habe gedacht: Warum in aller Welt konnten die die Dinge nicht so lassen, wie sie waren?

In gewisser Weise kann man sagen, dass die Regale der Gesellschaft gerade umgebaut werden. Dass viele Menschen sich nicht mehr zurechtfinden in der beschleunigten Wirklichkeit. Dass einigen schwindelig wird, ob all der Möglichkeiten. Dass sie wünschen, dass die die Dinge bleiben wie sie waren – oder wie sie vielleicht nie wirklich waren, aber in der Rückblende erscheinen. Und je fragiler das Leben, je verletzter und verletzlicher es ist, desto stärker werden Veränderungen als Bedrohung empfunden. Deshalb sind sie nie selbstverständlich, deshalb sind sie umkämpft und müssen gemacht und erstritten werden.

Und ja, manche Veränderungen bedeuten Verlust oder die Angst vor Verlust: die Autobauerin, die fürchtet, in ein paar Jahren auf der Straße zu stehen. Der Kohlearbeiter, dessen Tagebau schließt. Die Bauernfamilie, die den Hof aufgibt, weil sie im Wettbewerb des Wachsens nicht mehr mithalten kann. Alle diese Menschen verdienen Antworten und Perspektiven, die ihnen Respekt und Würde sichern.

„Worauf ich stolz bin? Darauf, dass Loyalität und Integrität unsere Werte sind“
2019 hatten wir Rückenwind. Wir segelten. 2020 kam der Wind von vorne. Segeln war vorbei. Wir mussten rudern. Und wir griffen in die Riemen. Und wir blieben im Gleichtakt. Worauf ich stolz bin? Darauf, dass Loyalität und Integrität unsere Werte sind. Wir stellen uns voreinander, wir sehen uns Fehler nach, wir stärken uns in unseren Stärken. Wenn einem was nicht passt, dann kann er es sagen – aber nicht in die Kameras, sondern ins Gesicht. Dieses Vertrauen haben wir uns erarbeitet. Und Annalena Baerbock und ich versuchen das vorzuleben. Und dass das so beantwortet wird, das macht mich stolz, Euer Vorsitzender zu sein. Und dankbar. Danke!

2020 war ein Seuchenjahr. Aber auch eines, an dem wir gewachsen sind, konkret, direkt da, wo wir leben: In NRW wurde bei der Kommunalwahl das Europawahlergebnis bestätigt – mit einer Reihe von neuen grünen Bürgermeister*innen und Oberbürgermeister*innen – in den großen Städten – aber auch – Katja, Sibylle, Henriette, Uwe – seht es mir nach, dass ich das besonders hervorhebe – auch in kleineren Städten, in Dörfern, auf dem Land. Das ist deshalb besonders und besonders wichtig, weil es zeigt, dass unsere Partei für die ganze Gesellschaft arbeitet und in ihrer Arbeit für Zusammenhalt belohnt wird, weil es beweist, dass wir unseren Anspruch für die Breite der Gesellschaft Politik zu machen, einlösen.

Nie waren die Grünen geschlossener. Unsere Stärke ist von Dauer. Unser Zuspruch gründet sich darauf, dass wir ein neues politisches Verständnis für eine neue Zeit verkörpern.

So findet 2021 erstmals seit der Gründung der Bundesrepublik nicht nur eine Wahl ohne amtierende Kanzler*in statt, erstmals kämpft eine dritte Partei ernsthaft um die Führung dieses Landes. Ich weiß, es ist ein hoher Anspruch. Ein kühner, vielleicht ein frecher. Aber wenn es stimmt, dass eine neue Zeit neue Antworten erfordert, dass eine neue Zeit einen neuen Ton, eine Farbe der Hoffnung braucht, dann stellen wir uns diesem Anspruch. Dafür sind wir gegründet worden. 40 Jahre Geschichte, die Erfahrungen aus den Regierungen und die Energie der Neueintritte, sie haben uns zu diesem Punkt gebracht.

„Von hier an anders: Optimistisch arbeiten wir an Lösungen.“
Von hier an anders: Optimistisch arbeiten wir an Lösungen. Und für diese Lösungen kämpfen wir um die Macht. Macht – das ist in unserem Kosmos oft ein Igitt-Begriff gewesen. Aber Macht kommt ja von machen. Und niemals bildet sich eine Gesellschaft und ihre Werte passiv, quasi aus sich selbst heraus. Sie wird geformt, sie wird gemacht.

Wenn wir unseren Beitrag dazu leisten wollen, dass unsere Gesellschaft eine Gesellschaft ist, dann müssen wir durch Machtausübung Einvernehmen herstellen.

Macht im 21. Jahrhundert Recht verstanden, heißt nicht, dass eine oder einer alles zu sagen hat und dass der eine Teil der Gesellschaft den andere bekriegt, es heißt auch nicht, das alle einer Meinung sind, das ist der Alptraum der Demokratie, es heißt eine Politik zu verkörpern, in der auch die unterlegende Seite die Entscheidungen mitträgt, weil sie gehört und fair behandelt wurde. Das ist keine graue Theorie – es ist politische Erfahrung. So hat Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg mit seiner Politik des Gehörtwerdens gearbeitet und ein flächendeckendes E-Ladenetz geschaffen und auf alle neuen Einkaufsmärkte, Bürogebäude, Schulen kommen jetzt Solaranlagen. Schleswig-Holstein hat seine Erneuerbare Energieproduktion auf 150 Prozent des Eigenbedarfs erhöht. Hessen ist zum Modelland für ökologischen Landwirtschaft geworden. In Rheinland-Pfalz gäbe es ohne Grüne keinen Nationalpark, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben mit dem grünen Band das größte Naturdenkmal Deutschlands geschaffen, Hamburg haben wir zur digitalsten Stadt vernetzter Mobilität gemacht.

2019 hat gezeigt: Wir können Gipfel stürmen. 2020 zeigt: unsere eigentliche Kraft entfaltet sich in den Mühen der Ebene. Nur so gewinnt man letztlich, nur so verändert man, beharrlich, Schritt für Schritt, auch bei Gegenwind.

Und mit diesem Wissen, dieser Kraft sagen wir: Wir können schwierige Krisen meistern. Wir können international kooperieren. Wir können Populisten besiegen. Wir können Gerechtigkeit herstellen und die Menschheitskrise Erderhitzung eindämmen. Wir können verändern und dadurch den Laden zusammenhalten. Wir wachsen an Krisen. Wir können als Gesellschaft Erstaunliches leisten.

2019 – war eine Zeit des Wachsens.

2020 eine Zeit des Zusammenwachsen – als Partei. Und als Gesellschaft.

Und 2021 wird das Jahr, in dem wir über uns hinaus wachsen.

 

Ich freu mich drauf!

 

Mehr Informationen unter:

Robert Habeck: Rede vom digitalen Parteitag der Grünen (21. November 2020)

Jede Zeit hat ihre Farbe – Auftakt zum digitalen Parteitag (21. November 2020) 

Von hier an anders – Tag zwei des digitalen Parteitags (22. November 2020)

Neue Zeiten, neue Antworten – Abschluss des neuen Grundsatzprogramms (22. November 2020) 

 

 

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